Professor Wan und sein Schüler
Volkswagen-Chef Oliver Blume schrieb seine Doktorarbeit einst bei dem chinesischen Elektroauto-Pionier Wan Gang.. Hier sprechen beide darüber, wie China die deutsche Autoindustrie überholte – und ob sich das wieder ändern kann.
DIE ZEIT: Das Verhältnis zwischen China und Deutschland ist heute kompliziert. Bevor wir das diskutieren – wie haben Sie beide sich eigentlich kennengelernt?
Wan Gang: Wir haben in den 1990er-Jahren im Volkswagen-Konzern zusammengearbeitet und an der Tongji-Universität in Shanghai auch zusammen geforscht, er war mein Doktorand.
ZEIT: Wie kam es dazu, Herr Wan?
Wan: Als sich China ab 1978 öffnete, war ich ein junger Mann. Bald darauf hat das chinesische Ministerium für Maschinenbau Kontakt zu VW aufgenommen, mit einem deiner Vorgänger, Olli.
Oliver Blume: Mit Carl Hahn!
Wan: Genau.
ZEIT: Es ist überliefert, dass damals an einem Montagmorgen unangekündigt ein Minister aus China in der VW-Zentrale in Wolfsburg vorsprach: China wolle von der deutschen Industrie lernen. Außerdem war man auf der Suche nach Herstellern, die künftig in China produzieren.
Blume: Ein Glücksfall für den Konzern. Carl Hahn hat mir einmal erzählt, es habe damals viele Bedenkenträger gegeben angesichts dieses ungewohnten Geschäfts. Aber er schaffte es schließlich, sie zu überzeugen und das Unbekannte als Chance zu sehen. Damals hat sich niemand auch nur ansatzweise vorstellen können, wie wichtig diese Zusammenarbeit für das Unternehmen einmal werden würde.
Wan: Das war ein mutiger Schritt von Dr. Hahn. 1984, ich war gerade fertig mit meinem Masterstudium und arbeitete als Lehrer für Mechanik, wurde in der Halle des Volkskongresses in Peking der erste Joint-Venture-Vertrag zwischen einem chinesischen Unternehmen und Volkswagen unterzeichnet, im Beisein des Kanzlers Helmut Kohl.
Drei Tage später besuchte Dr. Hahn meine Universität in Shanghai, um bei der Gründung des Fachbereichs für Fahrzeugbau zu helfen. Ich war sehr glücklich darüber, denn das Thema interessierte mich. Hahn sagte damals: Es werden viele Deutsche kommen. Aber in 20, 30 oder 40 Jahren würden die meisten Ingenieure Chinesen sein. Das war weitsichtig. Dieses Ziel ist heute erreicht.
ZEIT: Sie selbst gingen aber erst einmal nach Deutschland?
Wan: Deutschland war bekannt als hoch entwickeltes Land, meine Tutorin im Masterstudium hatte in Deutschland studiert. So ergriff ich die Chance jener Jahre, ging 1985 nach Clausthal-Zellerfeld und machte dort meine Promotion.
ZEIT: Wie haben Sie die Bundesrepublik erlebt?
Wan: Als ich in Deutschland ankam, schlug mein Doktorvater Professor Peter Dietz mir vor, dass ich per Anhalter fahren sollte, um das Land und die Leute kennenzulernen. Ich bin einen Monat lang per Anhalter durch Deutschland gefahren, in Dörfer und Städte. Egal wo, die erste Frage war immer: Bist du Japaner oder Chinese?
ZEIT: Keine Ablehnung?
Wan: Nein, man hat versucht, sich gegenseitig kennenzulernen. Alle waren offen, neugierig, freundlich. Die nächsten Fragen an mich waren immer: Wie sieht China eigentlich aus, wie wird es sich wohl entwickeln? Und ob ich zurückwill.
ZEIT: 1991 haben Sie als Ingenieur bei Audi in der Technischen Entwicklung angefangen. Da, in Ingolstadt, kommen auch Sie ins Spiel, Herr Blume.
Blume: Genau, wir arbeiteten von 1995 bis 1998 gemeinsam bei Audi an der Planung einer neuen Lackiererei und an neuen Methoden zur Oberflächenbeschichtung und Messtechnik.
Wan: Da war Olli noch sehr jung.
Blume: Ja. Parallel zu meinem Job hatte ich eine Doktorarbeit in Deutschland begonnen, die davon handelte, mit Software die Planung und den Bau von Fabriken zu unterstützen. Als Gang den Ruf bekam, das Institut für Automobiltechnik in Shanghai aufzubauen, entstand die Idee, meine Doktorarbeit in China bei ihm fortzuführen.
ZEIT: In was für ein Land kamen Sie da Ende der 1990er-Jahre?
Blume: Ich erinnere mich, dass an jeder roten Ampel Hunderte Fahrradfahrer warteten. Privatleute hatten selten ein Auto, es gab aber viele Taxis, meist den VW Santana. Und es gab Audi-Limousinen. An der Hochschule haben die Studenten bis tief in die Nacht im Hörsaal gearbeitet und gelernt. Das finde ich immer wieder bemerkenswert in China: dieser große Fleiß und unbedingte Wille, ständig noch besser werden zu wollen.
ZEIT: Das Verhältnis zwischen China und Deutschland war damals ein anderes.
Blume: Das war eine Phase des Aufbruchs. Es war die Zeit, als China sich öffnete und sich immer schneller industrialisierte. Bei Volkswagen und Audi wurden zunehmend die enormen Marktchancen erkannt. China kam viel schneller voran als zum Beispiel Indien, nachdem sich diese beiden riesigen Länder ja einige Jahrzehnte fast parallel entwickelt hatten.
ZEIT: Warum war Deutschland, Volkswagen zuvorderst, so früh beteiligt am Wachstum?
Blume: Weil die Kulturen gut zueinander passen. Der Fleiß, der Ehrgeiz, das Erfinden. Ich erinnere mich an das Institut von Gang. Da standen in einer Prüfhalle einige VW Santana und Passat. Er hatte die Benzinmotoren ausgebaut und stattdessen Elektromotoren und Batterien eingebaut. Ich fragte ihn, was er da macht. Seine Antwort: Elektro ist die Zukunft des Automobils.
ZEIT: Eine eher überraschende These damals ...
Blume: Richtig. Zu dieser Zeit war die Elektro-Mobilität für die internationale Automobilindustrie eine Utopie. Aber Gang hat schon damals fest daran geglaubt. Aus heutiger Perspektive war das visionär. Deswegen gilt er als einer der Urväter der New Energy Vehicle, kurz NEVs, also der Elektro-, Hybrid- und Wasserstofffahrzeuge. Für China ist er sicher der wichtigste Elektropionier, aber auch weltweit gesehen eine bedeutende Persönlichkeit.
Wan: Der umweltfreundliche Antrieb von Autos – ob mit Strom oder Wasserstoff – war immer mein Traum. Um ihn zu realisieren, bin ich von Deutschland nach China zurückgegangen.
ZEIT: Bei Volkswagen ist das Wachstum nun vorbei, die Firma ist zum Verfolger chinesischer Anbieter geworden. Hätten Sie das gedacht als junger Ingenieur, Herr Blume?
Blume: Mir war immer klar, dass ein solches Land einmal seine eigene Autoindustrie entwickeln wird. Aber wir sollten die ganze Geschichte sehen: Wir haben mit dem Volkswagen-Konzern Millionen von Menschen den Zugang zum Auto ermöglicht und den Aufbau einer starken lokalen Autoindustrie unterstützt. Wir haben damit zu Wachstum und Wohlstand beigetragen. Nicht nur in China, sondern vor allem auch in Deutschland. Darauf sind wir stolz. Und jetzt hat sich der Markt tatsächlich geändert. In China hat sich in kurzer Zeit eine wettbewerbsfähige Automobilindustrie entwickelt. Für uns ist das nun eine Art Fitnesscenter.
China als gutes Beispiel
ZEIT: Was meinen Sie damit?
Blume: Innovationen, zum Beispiel bei der Batterie, Software oder dem autonomen Fahren, entstehen hier pragmatisch und kosteneffizient, mit hoher Kreativität und immensem Tempo. Die Produktivität ist hoch, die Zusammenarbeit von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft eng. Wir sehen das mittlerweile als eine Chance, haben uns darauf eingestellt, arbeiten dazu auch intensiv mit lokalen Hightech-Firmen zusammen. Dieses Know-how und diese Haltung können wir nutzen, um sie auf den ganzen Volkswagen-Konzern zu übertragen, gerade auch nach Deutschland, wo wir zu lange den früheren Erfolg genossen haben.
ZEIT: Jetzt reden Sie die Lage aber ein bisschen schön. In Deutschland kämpfen Sie mit zu hohen Kosten und schwerfälligen Strukturen, gleichzeitig fehlen Ihnen die Gewinne aus China.
Blume: Der Volkswagen-Konzern hat viele Baustellen, aber wir sind gut unterwegs, eine nach der anderen zu beheben. So sind wir etwa in Europa mit unseren E-Fahrzeugen inzwischen Marktführer und haben gerade im Einvernehmen mit den Arbeitnehmern einen klugen Kurs aus Sparen und Investieren eingeschlagen.. Gleichzeitig stehen wir in China unter Druck. Das ist richtig. Aktuell haben wir noch Nachholbedarf insbesondere bei den Kosten sowie bei einigen technologischen Zukunftsthemen wie dem autonomen Fahren. Hier haben wir viele Initiativen auf den Weg gebracht und schließen jetzt schnell auf.
ZEIT: Das tut not. Man denke an die Porsche-Kopie des chinesischen Herstellers Xiaomi, die wohl nicht die ähnliche Qualität wie das Original aufweist, aber eben auch nur ein Drittel kostet.
Blume: Auch das haben wir im Blick mit unserer neuen China-Strategie. Und die Fortschritte machen uns zuversichtlich, unsere Ziele zu erreichen: Im Jahr 2030 soll der Volkswagen-Konzern mit gut vier Millionen Autos pro Jahr der größte internationale Hersteller in China sein und insgesamt unter den besten drei, natürlich. Und vor allem eine nachhaltig positive Profitabilität erreichen, die deutlich über dem aktuellen Niveau liegt. Unser Ziel für 2030 sind drei Milliarden Euro.
ZEIT: Im Moment geht es in die andere Richtung. Tatsächlich sind immer weniger Modelle des VW-Konzerns auf den Straßen Chinas zu sehen.
Blume: Deswegen haben wir ja das Geschäft komplett umgekrempelt: Sehr viel passiert nun hier vor Ort, wir nennen es "in China für China". Dafür haben wir etwa 3,5 Milliarden Euro investiert, auch in ein eigenes Entwicklungszentrum, das in China eigenständig und schnell entscheiden kann, ohne ständig Rücksprache mit Deutschland halten zu müssen. Wir entwickeln gezielt auf die Wünsche der chinesischen Kundinnen und Kunden hin.
Wir kaufen Technik vor Ort ein, oft deutlich günstiger und manchmal sogar noch besser. Unser Ziel ist es, Autos in China künftig in drei anstatt vier Jahren zu konzipieren und die Herstellungskosten bei E-Fahrzeugen um bis zu 40 Prozent zu reduzieren. Wir sind bereits auf einem guten Weg, wir werden liefern – aber die kommenden ein bis zwei Jahre werden noch herausfordernd.
ZEIT: Die Krise von Volkswagen in China liegt vor allem an der Transformation der Antriebe hin zur Elektromobilität, bei der sich die meisten deutschen Automobilkonzerne schwertun. Haben Sie das kommen gesehen, Herr Wan?
Wan: Bald nachdem ich zurückgegangen war an die Tongji-Universität, hat das Wissenschaftsministerium ein Projekt aufgesetzt und Geld bereitgestellt für NEVs, also Elektro-, Hybrid- und Wasserstofffahrzeuge. Wieso? Weil die Idee der Regierung war, dass der Wohlstand im Land wächst, dass bald jede Familie ein Auto braucht. Die Städte sind eng, also nicht geeignet, um die Luft noch mehr zu verschmutzen durch Verbrenner. Unsere Idee war, dass wir auf Wasserstoff und Elektro setzen. Heute beherrschen wir deshalb Elektromotoren, Batterien und ihre Steuerung.
ZEIT: Die Elektromobilität in China ist auch gefördert worden, weil man den Verbrenner nicht so gut beherrschte wie die Konkurrenz aus dem Westen. So ist das in den Fünfjahresplänen nachzulesen, die Grundlage der Landesentwicklung sind.
Wan: Aus meiner Sicht war die Hauptmotivation für die Förderung der Elektromobilität, neben der angesprochenen Luftqualität auch, sich unabhängiger zu machen vom Öl. China hat nicht so viel Öl. In meinen 15 Jahren in Deutschland habe ich ja einiges erlebt beim Ölpreis – rauf und runter, die Konjunktur im Land hängt damit sehr eng zusammen. Da hat man mit dem Strom weniger Sorgen.
Blume: Das sagt viel über die chinesische Kultur: aus Visionen eine Strategie entwickeln und sie dann konsequent umsetzen. Ich erinnere mich, wie mich Gang in den 1990ern in Shanghai in ein Museum für Stadtentwicklung gebracht hat. Dort war eine Miniatur-Vision der Stadt ausgestellt. Ich dachte: schöne Vorstellung. 20 Jahre später hatte sich die Stadt tatsächlich so entwickelt. Das konsequente, pragmatische Umsetzen in China beeindruckt mich.
ZEIT: Was Sie konsequent nennen, bezeichnen andere – etwa die Bundesregierung in ihrer China-Strategie – als das Resultat eines sehr autoritären politischen Systems. Etwa wenn alte Wohnquartiere quasi über Nacht neuen Autobahnen weichen müssen. Blenden Sie das nicht aus, wenn Sie so begeistert Chinas Wachstum beschreiben?
Blume: Zum einen hat konsequentes Handeln erst mal nichts mit einem politischen System zu tun. Zum anderen übernehmen wir Verantwortung: Maßstab allen Tuns sind bei uns die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für die Wirtschaft. Das ist nicht verhandelbar. Und das verbinden wir mit unseren Aktivitäten auch in China. Das Land trägt zu einem Drittel des weltweiten Wirtschaftswachstums bei, daran wollen wir weiter teilhaben. Und wenn wir stark und erfolgreich bleiben, können wir aus dieser Position Einfluss ausüben, Prinzipien durchsetzen. Das gilt überall, auch im Dialog mit China.
ZEIT: Kann man eigentlich sagen: Volkswagen ist so unter Druck, weil Professor Wan so schnell so erfolgreich war mit der Antriebswende?
Wan: So schnell hat sich das gar nicht durchgesetzt, es sind ja doch 24 Jahre, die wir daran gearbeitet haben. Das Programm für New Energy Vehicles wurde im Jahr 2001 gestartet. Gut zehn Jahre konzentrierten wir uns auf eine eingehende Grundlagenforschung, technologische Innovation, sowie demonstrative Anwendungen. Das war eine harte Zeit für mich. Nur ab und zu gab es mal positive öffentliche Aufmerksamkeit. Zum Beispiel hatten wir für die Olympischen Spiele 2008 in Peking 50 Elektrobusse, 20 Wasserstoff-Brennstoffzellen-Autos und zwei Wasserstoff-Brennstoffzellen-Busse bereitgestellt.
ZEIT: Damals, 2007, wurden Sie auch in die Regierung berufen als Wissenschaftsminister.
Wan: Ja, und als wir in der Regierung 2011 entschieden haben, die Elektromobilität wirklich auszurollen, hat es auch wieder zehn Jahre gedauert. Erst sollte der öffentliche Verkehr elektrisch fahren, dann der private. Im Jahr 2015 fuhr auch hier nur eines von hundert Autos elektrisch. 2020 lag der Anteil bei 5,4 Prozent. Dann ging es schnell nach oben. Heute liegen wir in etwa bei 50 Prozent. Klingt einfach, es war aber ein langer Weg.
ZEIT: Was kann man daraus für Deutschland lernen, Herr Blume?
Blume: Um etwas Großes zu ändern, brauchen wir konsistente, langfristige Strategien, die über einzelne Regierungskonstellationen hinausgehen. Rasche Wechsel während eines Wandels verunsichern die Menschen und auch die Manager.
ZEIT: Das bedeutet, Sie fordern ein Ende des deutschen Hin und Her bei der Elektromobilität und ein Festhalten am Verbrenner-Aus in Europa im Jahr 2035?
Blume: Wir haben umfangreich in die E-Mobilität investiert und arbeiten darauf hin, dass in Europa ab 2035 Neufahrzeuge zu 100 Prozent elektrisch angetrieben sein werden. Und wir können nicht alle drei oder vier Jahre unsere Entscheidungen infrage stellen. Aber damit der Hochlauf gut gelingt und tatsächlich dem Klimaschutz dient, benötigen wir maßvolle Strompreise, mit Strom aus regenerativen Energien, eine starke öffentliche Ladeinfrastruktur und Anreize zum Kauf. Auf all diesen Feldern gibt China ein gutes Beispiel.
ZEIT: Herr Wan, die Elektromobilität in China hat sich ja auch durchgesetzt, weil der Staat sie mit enormen Subventionen gefördert hat. Die Europäische Kommission beklagt, dies verzerre den Wettbewerb unfair.
Wan: Unsere staatliche Unterstützung dient nur dazu, dass die Technologie reif wird. Aber die Forschung ist noch lange nicht zu Ende.
ZEIT: Die EU-Kommission hat detaillierte Zahlen dazu vorgelegt, wie China den Wettbewerb verzerre. Können Sie die Kritik verstehen?
Wan: Lassen Sie uns nach vorn schauen und gemeinsam Lösungen finden. Die EU-Kommission und das chinesische Handelsministerium verhandeln ja gerade noch. Sie suchen Lösungen auf beiden Seiten.
Blume: Um es klar zu sagen: Die deutsche und die europäische Autoindustrie teilen nicht die Meinung, dass der europäische Markt nur mit Zöllen vor chinesischen Importen geschützt werden müsste.
ZEIT: Aber Zölle können eine Rolle spielen, das ist schon auch die Haltung in vielen europäischen Unternehmen.
Blume: Es sollte insgesamt darum gehen, Zölle intelligent zu gestalten. Sie könnten gekoppelt sein mit Investitionsanreizen: Wer als Hersteller aus China kommt und in Europa produziert, Arbeitsplätze schafft und mit lokalen Partnern arbeitet, sollte weniger Zölle entrichten müssen. Nehmen wir als Beispiel die Batteriezellen: Dort ist China weltweit die Nummer eins. Wenn nun chinesische Unternehmen in Europa Batterien herstellen, kann unser Kontinent technologisch und wirtschaftlich davon profitieren. Ähnlich könnte es bei Fahrzeugen sein. Im Gegenzug sollte Gleiches für europäische Unternehmen in China gelten.
Wan: Die chinesische Industrie ist auch bereit dazu, gemeinsam mit Europa zu forschen. Und miteinander zu investieren. Das ist die beste Methode, um gemeinsam Ziele zu erreichen.
ZEIT: Gerade geschieht doch das Gegenteil: Es geht nicht nur um einen drohenden Handelskrieg. Es gibt auch weniger Studentenaustausch, der Deutsche Akademische Austauschdienst befürchtet Einschränkungen bei der Freiheit der Wissenschaft in China, es gibt weniger Flüge zwischen Europa und China. Wer verliert gerade das Interesse an wem?
Wan: Ich denke, daran waren vor allem die drei Jahre Pandemie schuld. Vor Corona hatten wir an der Tongji-Universität mehr als 1.000 deutsche Studenten. Aber wir wollen wieder dahin kommen. 2016 wurde ich zum Honorarprofessor der TU Clausthal ernannt und hatte direkt Unterricht für Studenten und Kollegen angeboten. Ich hoffe, dass es auch in der Zukunft Möglichkeiten gibt, akademischen Austausch fortzusetzen.
"Das Leben der Chinesen findet im Auto statt"
ZEIT: Hat die Ernüchterung nicht auch damit zu tun, dass Europa sich vor der hohen Geschwindigkeit und Marktmacht Chinas fürchtet? Mittlerweile produzieren etwa E-Auto-Unternehmen in China so viel, dass sie ihre Fahrzeuge auf dem heimischen Markt nicht mehr verkaufen können und deshalb immer mehr exportieren.
Wan: 84 Prozent der in China produzierten Autos werden in China verkauft, der inländische Markt ist also riesig. Europa sollte sich nicht so sehr sorgen, der Kontinent ist wirtschaftlich stärker als China.
ZEIT: Noch.
Wan: Im Prozess der Reform und der Entwicklung war Europa Chinas Vorbild, wir werden auch in der Zukunft noch viel von der europäischen Seite lernen. Im Moment ist die Situation etwas kompliziert, ja. Aber wir sollten das als Chance zur Diskussion begreifen, um einen gemeinsamen Weg zu finden, von dem beide Seiten profitieren. Ich nenne nur eine Zahl: In China gibt es 350 Millionen Pkw, das entspricht 240 Wagen pro 1.000 Einwohnern. In Europa beträgt die Quote 560 pro 1.000. Unser Markt ist also noch groß.
Der Wunsch all der Menschen, die der Armut entkommen sind, ist ein eigenes Fahrzeug. Und wir werden ihnen elektrifizierte Fahrzeuge anbieten. Denken Sie außerdem an den Globalen Süden, wie das mittlerweile genannt wird. Er ist eine Marktchance für alle. Und es ist noch eine Verpflichtung für die Autoindustrien, diesen Gesellschaften Autos zu bringen, die ohne Öl und ohne Umweltverschmutzung fahren.
ZEIT: Aber kann das partnerschaftlich geschehen? Die EU hat die Unterschiede klar benannt: In Europa zählt das Individuum, in China das Kollektiv. Die Bundesregierung beschreibt China als Partner, Wettbewerber und als Rivalen.
Blume: Ich halte Wettbewerb für wichtig, weil man sich anstrengen muss und es dazu führt, sich weiterzuentwickeln. Es ist wie im Sport: Wenn wir aus Angst jeden Wettbewerb vermeiden, dann werden wir nicht besser.
Wan: Wir haben immer noch das Gefühl, dass wir vor allem Partner sind. Wir sollten die Fundamente nutzen, die wir seit 40 Jahren aufgebaut haben.
Blume: Nehmen Sie Volkswagen. Wir haben in China rund 90.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, über 9.000 Partner in der Lieferkette und über 3.000 im Handel. Dahinter stecken viele persönliche Beziehungen über die Kontinente hinweg. Wir sind ein Wirtschaftsunternehmen und bauen gleichzeitig kulturelle Brücken.
Wan: Ich glaube zudem nicht, dass die sich alle entfremden. Unter den Mitarbeitern von Volkswagen in China gibt es viele Tongji-Alumni. Sie arbeiten kreativ und fleißig und haben sich in der VW-Familie gut integriert.
ZEIT: Aber auch in der Automobiltechnik entfernen sich doch China und Europa voneinander.
Blume: Die Zeiten sind tatsächlich vorbei, in denen die deutsche Autoindustrie ein Fahrzeug in Deutschland entwickelt und in China nur ein bisschen angepasst hat. Es gibt zunehmend Unterschiede, gerade bei den Erwartungen der Kunden: Das Leben der Chinesen findet zu einem großen Teil im Auto statt. Sie wünschen sich mehr Technik als Europäer. So müssen sämtliche Funktionen im Fahrzeug über die Sprache bedienbar sein. Analoge Knöpfe sind weitgehend überflüssig.
Und es braucht große Bildschirme, auf denen man im Stau Filme schauen oder Karaoke singen kann. Hinzu kommen Unterschiede bei der Regulatorik, etwa bei der Software, beim Datenschutz. Es ist insofern abzusehen, dass in Europa und Nordamerika gegenüber China zwei unabhängige technologische Ökosysteme entstehen. Aber der Volkswagen-Konzern kann damit sehr gut umgehen, weil wir eben überall vor Ort verwurzelt sind.
Wan: Als wir 1984 zusammen anfingen, China und Volkswagen, war es doch viel härter. Da herrschte Kalter Krieg, die Welt war wirklich gespalten. Und trotzdem haben wir zusammengearbeitet. Seitdem ist eine Verbindung gewachsen, die stärker ist als der aktuelle Druck, der sie bedroht. Ich denke, China und Europa haben große gemeinsame strategische Ziele.
ZEIT: In welchen Bereichen?
Wan: Bei der grünen Energie, der Gesundheit, der Versorgung mit Nahrungsmitteln, beim Klimawandel. Das zwingt uns zu kooperieren. Wir hatten in diesem Jahr in vielen Provinzen und Städten in China einen Hitzesommer, davor kann sich keiner verstecken. Die Natur verbindet uns miteinander. Sie zwingt uns dazu, zu verhandeln, um eine für beide Seiten akzeptable Lösung zu finden, und für eine nachhaltige und gemeinsame Entwicklung zusammenzuarbeiten.
Original: https://www.zeit.de/2025/04/autoindustrie-vw-oliver-blume-wan-gang-china